Ich bin zwar in Kassel geboren, aber in der Melsunger Mühlenstraße groß geworden. Dort stand das ehemalige Gebäude der Druckerei Bernecker. Es war über einen kleinen Innenhof von meinem Elternhaus aus in der Kasseler Straße direkt zu erreichen. Ich erinnere mich gern an meine unbeschwerte Kind- und Jugendzeit. Aber war früher tatsächlich alles besser?
So druckte man früher
Hinter der Druckerei war ein kleiner Stadtgarten, den wir Gärtchen nannten. Das Gärtchen hatte einen direkten Zugang zur Druckerei. Damals war es üblich, dass am Wochenende gearbeitet wurde. Schichtarbeit war noch nicht üblich. Die Zeitungsdruckmaschine startete aber schon um vier Uhr morgens. Wenn meine Eltern sich also in der Sonne erholten, schlich ich mich durch den Holzstall in den Drucksaal. Aus dem gleißenden Sonnenlicht kam ich in in meinen geliebten Abenteuerspielplatz Druckerei. Wunderbar dieser Geruch von Druckfarbe und das gleichförmige Stampfen der Druckmaschine. Intensive Sinneswahrnehmungen, die mir bis an mein Lebensende bleiben. Das eintönige Hin- und Herfahren der schweren Blei- Druckstöcke hatte etwas Martialisches, gleichzeitig aber auch Beruhigendes an sich. Der schwere metallische Klang faszinierte. Sehr viel harmonischer und inspirierender als die Geräusche der heutigen schnelllaufenden Offsetmaschinen. Mit geschlossenen Augen konnte man fühlen, wie Bogen für Bogen bedruckt wurde. Seit frühester Jugend bin ich irgendwie ein Drucker.
Drucken war im letzten Jahrtausend noch ein echtes Handwerk. Das vorherrschende Druckverfahren war Buchdruck. Buchdruck, oder Hochdruck bedeutet: Was drucken soll ist erhaben. Mit anderen Worten: Die Buchstaben stehen stehen hoch und geben, vorher mit Druckerschwärze eingefärbt, so ihren Inhalt an das Papier ab. Das funktioniert etwa so wie ein Stempel. Um nun eine Seite zu drucken, muss zuvor eine Druckform hergestellt werden. Das heißt: Die einzelnen Buchstaben werden von Hand hintereinander gefügt. So entsteht ein Wort, daraus eine Zeile und am Ende eine Seite Text. Echtes Handwerk also.
Publizieren, ein Monopol der Druckerei
Die Druckbetriebe hatten jahrhundertelang das Monopol für Form und Gestaltung von Schrift. Wer veröffentlichen wollte, musste sich einer Druckerei anvertrauen. Schriftsetzer, Buchdrucker und Buchbinder waren die technischen Ausbildungsberufe der Branche. Die Setzer standen an der Spitze der Nahrungskette. Ohne die Arbeit der Setzer konnte ja nichts gedruckt werden. Um Setzer werden zu können, musste man sehr gute Rechtschreibkenntnisse haben. Auf Orthographie wurde damals sehr großer Wert gelegt. Alles, was veröffentlicht wurde, wurde von Korrektoren gelesen. Die Korrektoren waren die, die den höchsten Respekt im Betrieb genossen. Auch der Buchdrucker musste den ersten Abzug (heute würde man sagen Kopie) seiner Druckform noch einmal von einem Korrektor abnehmen lassen. Revision nannte man das. Wahnsinn, was der Handwerker Drucker damals alles erledigen und können musste, bevor die erste Seite vervielfältigt war und die Maschine anlaufen konnte.
Die Gefahren des Lebens
Mit den Gefahren des Lebens ging man damals weniger verkrampft um. Autos hatten keine Gurte, zumindest nicht hinten, eine allgemeine Anschnallpflicht gab es nicht. In Druckereien wurde körperlich hart gearbeitet. Papier ist schwer. Das Blei, aus dem die Druckstöcke zum großen Teil bestehen, ebenfalls. Tonnen von Material wurden täglich von Hand bewegt, und alles fast ohne jede mechanische Unterstützung. Dass Blei an sich giftig ist, scheint man damals noch nicht gewusst zu haben, oder man hat es ausgeblendet. Später kam der Offsetdruck. Hier wurde mit allerlei Chemikalien gearbeitet. Gefahrenhinweise gab es kaum, die meisten wurde ohnehin nicht beachtet. Man meinte es besser zu wissen.
Wer auf seine Gesundheit achtete, galt als Weichei in dieser von Männern dominierten Branche. Die Betriebsfeste waren Gelage. Bier war ein Getränk um Durst zu stillen, so wie heute Wasser. Zum Frühstück eine Flasche Bier zu trinken, war Standard. Die Stifte, so wurden die Azubis früher genannt, mussten den Gesellen das Frühstück in der Stadt holen. Na logisch, „Lehrjahre sind schließlich keine Herrenjahre“, war der passende Spruch dazu. Fahrradhelme gab es noch nicht.
Mein erstes motorisiertes Fahrzeug war ein Mofa, offiziell 25 km schnell, schaffte natürlich aber mehr. Spaß muß sein! Helm? Fehlanzeige. Im Jahr 1960 gab es über 16.000 Verkehrstote in Deutschland. Das entspricht einer Zahl von 142 Toten pro 100.000 zugelassenen Kraftfahrzeugen. Heute pendelt die Zahl zwischen 3.000 und 3.500 respektive ca. 5,7 Toten pro 100.000 Fahrzeugen.
Im Vergleich zu früher …
Früher war vieles unkomplizierter, direkter, aber auch rauher. Wenn man über die Stränge geschlagen hatte, gab’s gelegentlich mal was hinter die Löffel. Ich habe das nie als Gewalt erlebt, zumal ja immer ein Grund vorlag. Vor dem Stadtpolizisten hatten wir Jungs jedenfalls höllischen Respekt. Wir waren unbekümmert und oft frech. Die Folgen unseres Verhaltens waren uns meist bewußt. Und wir konnten damit umgehen.
… ist heute fast alles besser
Die gute alte Zeit, wie man heute so schön sagt, war also nicht so gut. Wir neigen dazu sie zu idealisieren. Fast alles ist heute besser. Das vergessen wir gern. Wir leben mit herausragenden Sicherheitsstandards, ernähren uns in der Regel gesund, trinken viel weniger Alkohol als früher, leben länger und das bei viel besserer Lebensqualität. Das Leben ist schneller geworden, vielfältiger, interessanter, internationaler. Ich kann mich gut daran erinnern, dass es früher schier eine Sensation war, wenn ein Fahrzeug aus einem anderen Land in unserer kleinen Stadt auftauchte. Heute ist die ganze Welt einen Steinwurf entfernt. Auch gibt es dank der engagierten und leistungsbereiten Landwirte weniger Hunger in der Welt.
In unserer Branche gibt es keine Chemie mehr. Die körperliche Arbeit ist viel leichter geworden. Wo früher Tonnen von Material, bewegt wurden helfen heute Maschinen. Bei den Pharmadruckern läuft heute fast alles digital und automatisch.
Wenn man heute und früher vergleicht, wäre also Dankbarkeit angebracht.
Aber vieles ist komplizierter
Unsere Welt ist komplexer, ich würde sagen komplizierter geworden. Die Bürokratie frisst einen zunehmend großen Teil der täglichen Arbeitsenergie. Immer weniger Menschen arbeiten, immer mehr Menschen verwalten. Für fast alles benötigt man einen Antrag, eine Genehmigung, viele Unterschriften und endlos Zeit. Zusammenarbeiten auf Zuruf im gegenseitigen Respekt und Vertrauen, so wie es mir mein Vater vorgelebt hat, ist ein Relikt aus der Vergangenheit.
Denn Verantwortung will heute keiner mehr übernehmen. Und wenn etwas schiefgeht sind die anderen Schuld. Außerdem wird sofort nach dem Staat gerufen. Der gründet dann eine neue Behörde, die neue Verordnungen erlässt.
Also, Lust auf Veränderung, Respekt vor dem anderen, Toleranz gegenüber den Mitmenschen, mehr Freiheit, weniger Staat, das sind die wenigen Dinge, von denen ich mir in der heutigen Zeit mehr wünsche.